DIE LEVITENLESUNGSBEOBACHTUNGEN VON SEREYNE UND ST_PAULINE:
"Uns wird jugendliche Arroganz vorgeworfen. Hey, warum nicht dann auch ausleben:
Samstag, 22.11.03, für eine Nacht von Berlin nach Frankfurt, 5 Stunden Autobahnfahrt. Frau Pauline gönnt sich ein entspannendes Vollbad in der 5 Sterne Kanzleiwohnung während Frau Rey sich noch schnell bei Miss Sixty ein Shirt für 59,95 Euro ergattert. Der Rest ist Routine –Makeup, Klamotten, Haare, Essen und ab auf den Weg.
Wenn man das Café im Kunstverein dann mal gefunden hat, nicht ganz ohne die Herren Organisatoren im Veranstaltungsstress noch einmal zu stören, ist man vom Ambiente doch ein wenig überrascht. Nicht unbedingt nur das erwartete Jetzt-Klientel, sondern vor allem auch wirklich erwachsenes und literaturbegeistertes Publikum drängt sich in dem großen Raum den Herr Blindtexter bangte, nicht füllen zu können. Eine Sorge weniger.
Wenngleich er noch mit der anderen Sorge zu kämpfen hat – 5 Minuten vor Beginn steht er am Fenster und schreibt seine Rede. Denn er ist nicht nur Organisator und Leser sondern auch der Conferencier an diesem Abend. Für alle die nicht wissen, was ein Conferencier ist: der führt durchs Programm.
Die Liga der Auserwählten schart sich im Backstagebereich hinter einer kleinen wohnzimmergleichen Bühne. Rockstar eröffnet uns, gerade sein Abendessen wieder von sich gegeben zu haben, während er das ungefähr vierte Bier leert. Auf uns wirken die Damen und Herren sehr gelassen jedoch vereinzeltes Hinterfragen offenbart die angespannte Ruhe vor dem Sturm.
Auf unsere Frage, wann es denn losginge, antwortet Blindtexter „Jetzt!“. Er nimmt das Mikro in die Hände und raunt ein „Schschschsch…“ hinein um die Wogen der lebhaften Gespräche und des Lachens zu glätten. Und schon bricht er los, der Sturm:
Begonnen mit einem Blindtexter, souverän wie immer ins eigene Spiegelbild schauend und uns gleichermaßen den Spiegel vorhaltend, ja, auch in Wollsocken.
Der nächste Wirbelsturm im Wasserglas wird uns von Jess serviert, die Schlampe oder auch Mann sucht, je nach Belieben.
Herr_K im Anzug trägt uns eine Hommage an die Liebe vor. Etwas, wofür er noch vor einem Jahr anderen ob des Kitschfaktors die Leviten gelesen hätte.
Das Auge des Orkans stellt Tapioka mit ergreifend leisen und mitreißend tiefen Worten dar. Das Schweigen danach ist ihr Applaus.
Ein überraschend unprätentiöser Rockstar, der es
später vorzieht sein Hotelzimmer zerstören zu lassen statt selbst Hand anzulegen, schlägt sämtliche Warnungen auf Zigarettenschachteln mit einer Liebeserklärung an selbige in den Wind.
So überwältigend das Programm auch ist, es wird einem zwischen den Darbietungen doch immer wieder Zeit gelassen, das Gehörte zu reflektieren und sich neu zu öffnen für den nächsten Levitenleser. Die Pausen werden untermalt von Eigenkompositionen der peruanischen Musiker und DJs sowie stimmungsvollen Visuals über der Bar.
Leowee, faszinierend wie immer, überrascht mit Einblicken in das Seelenleben eines Mannes und Ausblicken auf die für sie (wie sie uns später gesteht) wesentlich interessanteren Seelenzüge der Frau.
Minee reift in textlich perlender Perfektion schockierend ehrlich und doch witzig von der kleinen Schwester zur erwachsenen Frau.
Abschließend kommen unsere Levitenleser nochmals geschlossen zusammen um das harte Brot ihrer Kunst zu genießen – den tosenden Applaus.
Würden uns die Leviten immer so gelesen, fehlte eigentlich nur noch der Champagner zum Anstoßen. Ein Hoch auf die jugendlich dekadente Arroganz.
ByBy
sereyne & st_pauline
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PS: Der Morgen danach. Im Foyer begrüßt uns ein sehr gestresster Blindtexter. Die auch ungeschminkt bezaubernde Leowee in Flipflops lächelt uns als erste müde entgegen als wir den Frühstückssaal betreten. Eine perfekt gestylte Jess mit Kopfschmerzen, ein viel zu wacher Yobert, ein schon satter Herr_K und eine niedlich verträumte Natalika säumen den Tisch.
Viel zu wenig Schlaf, vielleicht auch zu viel Alkohol zeichnet sich auf den Gesichtern ab, die da am Tisch sitzen. Tapioka ist in aller Frühe abgereist, Minee, Tagesheld und Rockstar schlafen noch.
Die alte Villa wirkt noch surrealer als in der Nacht zuvor, jetzt da der Kronleuchter brennt und die Blümchentapete im Frühstücksraum versucht, uns aufzumuntern. Zwischen eiligen Fahrten zum Bahnhof, nach Hause und zurück nimmt sich der Blindtexter die Zeit, uns auf dem schwarzen Flügel vorzuspielen. Doch noch bevor wir uns zu ihm gesellen können ist er auch schon wieder auf und davon, wer weiß wohin.
Langsam gesellt sich auch der Rest dazu. Minee lamentiert über die vermeintlichen Dreadlocks des Vorabends die unserer Meinung nach keine waren, ihr aber eine Zigarette mit gefährlichem Inhalt angedreht haben sollen. Ihre Ausrede für Rockstars zerstörtes Hotelzimmer. Besagter Herr frühstückt ganz rockstarlike nur Nikotin, Koffein und Aspirin während Jess schon wieder beim Sekt angelangt ist. Die Gespräche kreisen um Nemo, die Deutsche Bahn und Kindheitstraumata. Zu viele rote Fäden für einen solchen Morgen, denen unmöglich zu folgen ist.
Leowee jammert darüber, dass sie gleich noch fotografiert werden wird, die nächsten brechen auf, wir knabbern lustlos an unserem Brot. Der überaus fürsorgliche Hotelinhaber versorgt uns mit Kaffee in Rekordmengen, Saft und allem was sonst noch überlebenswichtig ist. Draußen ist es grau doch es hilft nichts, wir müssen aufbrechen.
Hinter uns liegen ein grandioser Abend, eine schlaflose Nacht, ein paar verstörende und viele schöne Momente. Vor uns 600 Kilometer Autobahn.
Der Abschied ist kurz und schmerzlos, weil man zu müde für große Worte ist und Herr Blindtexter ohnehin schon wieder dabei, das nächste Projekt zu planen.
Ja, es lebe die jugendliche Arroganz. Auch wenn in diesem Moment nicht mehr viel davon übrig ist.